Auf der Fachtagung „Was heißt in Würde sterben?“ stellte Prof. Dr. Thomas Sören Hoffmann neun Thesen zur Diskussion, die wir hier wiedergegeben:
Thesen zu Suizid und Suizidbeihilfe
0. Vorbemerkung: Die folgenden Thesen betrachten das Problem des Suizids und der Suizidbeihilfe in ethisch-‐handlungstheoretischer Perspektive; ihr Gegenstand sind nicht unmittelbar die Fragen des Umgangs mit Suizidgefährdeten oder andere, z.B. psychiatrisch-‐therapeutische oder sonstige pragmatische Dimensionen des Problems (etwa der Schutz von Suizidgefährdeten gegen allzu eilfertige „Helfer“ bei Ärzten und Verwandten) sowie die Probleme, die sich für das Arztethos stellen müssen.
Zur biopolitischen Einbettung der aktuellen Debatte
1. Die neueren Debatten um die gesetzliche Lizenzierung der Suizidbeihilfe sind grundsätzlich im Kontext einer biopolitischen Gesamtperspektive zu sehen, die dadurch gekennzeichnet ist, daß „moderne“ Gesellschaften sich stets erweiternde Regulierungskompetenzen in Beziehung nicht nur auf die eigentliche Rechtssphäre, sondern auch das „nackte Leben“ (Giorgio Agamben) ihrer Mitglieder zuschreiben. Moderne Macht ist (a) auf die Herrschaft über die Meinung und (b) die Herrschaft über den Bios gegründet.
2. In der Frage der Suizidbeihilfe geht es um die öffentliche „Formatierung“ von (Selbst-‐)Tötungsakten und insofern um eine rechtförmige Inszenierung des (vormals anarchischen) Todes als gesellschaftlicher Funktion. Biopolitik agiert hier als „Thanatopolitik“.
Zu den nicht immer offengelegten Prämissen der Debatte: Suizid als Wert?
3. Eine gesetzlich lizenzierte Suizidbeihilfe setzt in jedem Fall voraus, daß suizidale Handlungen als solche mindestens
(a) als wertneutral oder aber
(b) als wertvoll angesehen werden.
4. Als zumindest der Möglichkeit nach (auch) „wertvoll“ wird der Suizid aus der Perspektive eines vitalistischen sowie heute insbesondere eines utilitaristischen Gesellschaftskonzepts betrachtet:
(a) der Suizid stellt zwar nicht notwendig in sich, wohl aber als „Option“ unter gegebenen Umständen einen subjektiven Wert dar, sofern er eine zusätzliche „Handlungsperspektive“ angesichts dieser Umstände eröffnet (liberal-‐präferenzutilitaristisches Argument)
(b) er stellt einen objektiven Wert dar, insofern er „dem Leben dient“ (Nietzsche) bzw. einen nutzen-‐und effizienzorientierten Ausbau der Gesellschaft unterstützt (Extremposition: „a duty to die!“; J. Hardwig, M. Warnock) (ökonomistisch-‐konsequentialistisches Argument)
5. In ihren Hauptvertretern hat die philosophische Ethik seit der Antike regelmäßig bestritten, daß suizidale Handlungen als wertneutral angesehen werden können; sie hat sie vielmehr als in vielfacher Hinsicht wertwidrig eingestuft. Insgesamt lassen sich dabei fünf Hauptargumente für die Wertwidrigkeit des Selbstmordes unterscheiden:
(a) das Heteronomieargument: in der Selbsttötung läßt sich das zur Autonomie bestimmte Vernunftwesen Mensch durch äußere Umstände fremdbestimmen und opfert diesen Umständen seine sittliche Selbstbestimmung (Kant, Fichte)
(b) das Irrationalitätsargument: suizidale Handlungen sind keiner rationalen Handlungsmaximen fähig, vielmehr beraubt sich in ihnen das Vernunftsubjekt Mensch auf selbstwidersprüchliche Weise der Möglichkeit alles konkret-‐rationalen Handelns überhaupt (Kant)
(c) das Ungerechtigkeitsargument: Selbstmord ist nur unter Aufwendung von nicht durch das Recht legitimierbarer Gewalt zu vollziehen und dadurch ungerecht; Gewalt gegen sich ist nicht per se legitime Gewalt (Platon, Augustinus, Dante) („Wer sich selbst tötet, tötet einen Menschen“).
(d) das Vereinzelungsargument: im Suizid verkennt das Individuum die Unverfügbarkeit des Lebens, über das es immer schon auf andere Individuen bezogen ist, ohne die es nicht wäre, was es ist; es versteht „sein“ Leben statt dessen „dinglich“ als seinen „Privatbesitz“, für das es ein unbeschränktes Sachgebrauchsrecht beansprucht (Hegel, Kierkegaard).
(e) das Verzweiflungsargument: suizidale Handlungen sind auf der existenziellen Ebene immer Ausdruck eines scheiternden Selbstverhältnisses; in ihnen kollabiert menschliches Selbstsein zusammen mit dem Kollaps der Beziehung auf andere und die Welt (Kierkegaard, Jaspers).
6. Die Argumente der Tradition lassen sich in handlungstheoretischer Sicht durch den ergänzenden Hinweis erweitern, daß Handlungen als Lebensvollzüge schon als solche „lebensaffirmativ“ sind. Handlungen sind Lebensäußerungen, die der Lebenskontinuation dienen. Das eigene Leben verneinende Handlungen sind Vollzugsparadoxien und als Ausdruck einer Verzweiflung am Leben zu werten.
Konklusionen für die aktuelle Debatte
7. Schon vom Rechtsgedanken her ist die Lizenzierung der Mitwirkung an einer Selbsttötung Dritter paradox: Das Recht stiftet eine Koexistenzordnung, die stimmig nur als Ordnung reziproker Anerkennung aller existierenden Rechtsgenossen als in ihrer Existenz zu sichernder gedacht werden kann. Die Koexistenzordnung des Rechts kann keine Akte legitimieren, in denen die Existenz eines Rechtsgenossen zur Disposition gestellt wird; Ausnahmen (etwa das Notwehrrecht) müssen aus der Erhaltung der Koexistenzordnung als solcher gerechtfertigt werden können.
8. Wenn suizidale Handlungen sodann in sich wertwidrig sind und Beihilfehandlungen dazu zugleich dem Rechtsgedanken zuwider laufen, kann es auch in Zeiten moderner „Biopolitik“ nicht die Aufgabe des Gesetzgebers sein, solche Handlungen mit den Mitteln gesetzlicher Regelungen zu begünstigen. Noch weniger kann es darum gehen, eine neue Praxis des Tötens im Kontext ausgerechnet des Gesundheitswesens formal rechtsförmig zu etablieren. Die Aufgabe des Gesetzgebers ist umgekehrt die, die Unterstützung suizidaler Handlungen Dritter um willen des Rechts, aber auch um willen der Würde aller Beteiligter mit Rechtsmitteln zu unterbinden.
9. Auch unabhängig von der Bewertung suizidaler Handlungen als solcher steht der Beihilfe zum Selbstmord das den Mitwirkenden unmittelbar adressierende (moralische und rechtliche) Tötungsverbot direkt entgegen. Die Mitwirkung an einer Selbsttötung kann dabei sogar in höherem Maße die Würde des Mitwirkenden tangieren als sie die des um diese Mitwirkung Bittenden berührt. Auch eine Thanatopolitik der rechtlichen Zulassung der Suizidassistenz kann denjenigen, der sich als „Helfer“ handelnd über das Tötungsverbot hinwegsetzt, nicht exkulpieren.