Man soll auch den jungen Menschen Gehör schenken. Denn in dem, was junge Menschen heute denken, sagen und schreiben, läßt sich erkennen, wohin eine Gesellschaft sich möglicherweise bewegt. So wie es nötig ist, jungen Menschen zuzuhören, so ist es auch erlaubt, betroffen zu sein und Widerspruch zu erheben.
Und das soll an dieser Stelle geschehen. Zeus, ein Projekt der WAZ gibt Schülern die Möglichkeit, sich als Nachwuchsjournalist zu betätigen. Auf dieser Seite, Zeus – Medienwelten, erschien gestern ein Artikel unter dem Titel: „Sterbehilfe erlauben?“ Der Autor ist Schüler einer neunten Klasse an der privaten evangelischen Matthias- Claudius- Gesamtschule in Bochum.
Zwei Sätze aus dem Artikel seien hier einmal besonders unter die Lupe genommen.
Aber die Sterbehilfe ist dennoch sinnvoll, wenn Menschen, die zum Beispiel an Krebs im Endstadium erkranken, dadurch von ihren täglichen schrecklichen Leiden erlöst werden können.
Es könnten sich beispielsweise in Deutschland Kliniken und Ärzte zusammenschließen, die Sterbehilfe praktizieren und so den Menschen einen schönen Abtritt von dieser Welt gewähren. [weiterlesen]
Noch einmal zur Erinnerung, diese beiden Sätze stammen aus der Feder eines Neuntklässlers.
Wer den Artikel liest, bekommt den Eindruck eines nachdenklichen Jugendlichen. Er argumentiert jedoch ganz gemäß unserem Zeitgeist. Seine Argumentation ist stringent aufgebaut. Es klingt „gut“. Wer will denn nicht, daß Menschen vor Leiden und Schmerzen bewahrt werden? Wem sollte es zuwider sein, wenn Menschen in schwerster Krankheit „Erlösung“ erhalten?
Und doch, demaskiert dieser Junge Mann in erschreckender Radikalität die Grausamkeit zeitgenössischen Mainstreamdenkens. Palliativmedizin reiche nicht – oder nicht immer – soweit darf die Einschränkung noch gehen, läßt er den Leser wissen. Wenn diese nicht mehr reiche, dann sei das tödliche „Medikament“ der logische nächste Schritt, so kann man dem Artikel entnehmen. Er ist in dem System nicht nur logisch, er ist zwingend, weil er als „Erlösung“ begriffen wird. Damit wird ein alter Begriff vollständig entkernt, umgedeutet und so zu einem völlig neuen ganz anders definierten Begriff. Erlösung in unserer christlich- abendländischen Kultur bedeutet, Herauslösung aus der Verstrickung in die Sünde. Diese Erlösung, so glauben die Christen, rettet den Menschen vor dem ewigen Tod hinein in das ewige Leben. Über Jahrhunderte wurde der Erlösungsbegriff genau so und nicht anders verstanden.
Der neue, hier gebrauchte Erlösungsbegriff „rettet“ den leidenden Menschen vom Leben in den Tod hinein. Der Tod ist die Rettung. Dies ist nichts anderes als Nihilismus. Das „Nicht-sein“ ist der angestrebte Zustand, wenn das Sein seine Erträglichkeit verloren hat. Die Alternative, auch dem Leben eines schwerstkranken und / oder sterbenden Menschen ein Sinn zuzuschreiben, kommt dieser Form des Nihilismus gar nicht in den Sinn. Das ist das erschreckende Drama an dieser Art des Denkens.
Aus dem zweiten oben zitierten Satz wird deutlich, daß es mit der Sterbehilfe auch für den jungen Autor nicht ganz so einfach ist. Wenn es nicht jeder Arzt diese neuartige Dienstlseitung anbieten soll, stellt sich die Fragen: Warum eigentlich nicht?
Ganz offensichtlich ist es wohl doch nicht so einfach einen Menschen vom Leben zum Tod zu befördern. So wird eingestanden, daß es nicht jedem Arzt zumutbar ist. Sterbekliniken, wie sie jetzt in den Niederlanden in Gründung sind, drängen sich als Lösung auf. Der Tod, der schon jetzt weitestgehend aus dem Bewußtsein der Menschen verdrängt ist, soll in schöne Kliniken in schöner Landschaft verlagert werden, damit den Menschen einen schönen Abtritt von dieser Welt ermöglicht wird. Schön, das sei an dieser Stelle versichert ist er nur für die, die es nicht mitbekommen. Schön ist daran gar nichts. Denn in solchen Kliniken werden Menschen auf unnatürlichem Wege vom Leben zum Tode befördert. Der Alltag der Mitarbeiter solcher Kliniken wäre die permanente, täglich wiederholte Tötung von Menschen. Man muß nicht lange überlegen, was das mit den Menschen macht, die dort arbeiten. Abstumpfung, Verrohung, schwerste Traumata wären nur einige der möglichen Folgen. Niemand auf der Welt ist so resistent gegen das Töten von Menschen, daß er dies dauerhaft ohne schweren psychischen Schaden zu erleiden tun kann.
Einen Menschen aktiv zu töten oder ihm beim Suizid zu helfen ist niemals eine Lösung. Dies darf weder privat noch organisiert erlaubt werden.
Es macht mich persönlich betroffen aus der Feder eines nachdenklichen und offensichtlich recht begabten jungen Menschen ein solches Postulat zu lesen. Und ich kann nicht umhin die Frage zu stellen, ob er selber denn seine Großeltern oder später seine Eltern in eine solche Sterbehilfeklinik bringen würde? Die Frage muß ich stellen. Die Frage muß er sich auch selber stellen. Allen jungen Menschen sei nahe gelegt, diese Frage mit Eltern, Lehrern und untereinander zu besprechen. Es geht um ganz wesentliche Weichenstellungen in unserer Gesellschaft.
Den Lehrern, nicht nur der Schule, die der hier zitierte Schüler besucht, sondern aller Schulen in unserem Lande kann ich nur empfehlen, ihren Schülern Begegnungen mit Hospizmitarbeitern und Palliativmedizinern zu ermöglichen. Wir, die jetzt erwachsenen Menschen, sind die, über die diese Generation eines Tages zu entscheiden hat. Wir sind verantwortlich dafür, den Jugendlichen von heute ein ethisches Fundament zu geben. Später müssen sie uns, die Alten und Kranken von morgen, möglicherweise vor den wohlmeinenden „Helfern“ schützen.
Dem jungen „Kollegen“ spreche ich meine Anerkennung für seinen Mut zur öffentlichen Stellungnahme aus. Dennoch sind ihm weitere Recherchen anzuraten, damit „der schöne Abtritt von der Welt“ vielleicht doch nicht das letzte Wort bleibt.